Buch

In dem JAKOBSWEG-TAGEBUCH beschreibe ich meine Pilgerreise durch Frankreich und Spanien nach Santiago de Compostela und Finisterre am Meer. In drei Monaten legte ich 1700km zu Fuß zurück. Meine intensiven Erfahrungen und Begegnungen auf dem Weg notierte ich tagebuchartig, zunächst ohne die Absicht, ein Buch zu schreiben. Es entstanden Texte über Begegnungen, Visionen, Grenzerfahrungen. Texte über Füße, Rhythmus, Gepäck, Schmerztransformation und Ausdauer.

Bei meiner Rückkehr trat ich ein Stipendium auf dem Künstlerinnenhof „Die Höge“, in der Nähe von Bremen, an, wo ich die Texte aufarbeitete und verfeinerte. Zudem entstand in dieser Zeit noch ein rhythmisch-poetischer Kurzfilm über die Prozesse des Gehens. Bis sich ein Verlag findet, der das Buch veröffentlichen möchte, gibt es das Buch in handgefertigter Auflage – alles liebevoll hergestellte Einzelexemplare. Von den bisher 250 Stück sind schon fast alle vergriffen. Das Buch gibt es im Zusammenhang mit den Lesungen zu kaufen. Falls eine Lesung bei mir gebucht wird, ist mit einer Neuauflage handmade zu rechnen.
LESEPROBE

Die Aufgabe ist einfach. Jeden Tag aufstehen, Füße fetten, Schuhe anziehen, den Rucksack auf und gehen, den EINEN vorgezeichneten Weg. Kaum, dass man sich verlaufen kann. In Frankreich den rotweißen Zeichen folgen und in Spanien den gelben Pfeilen. Es gibt nur Weniges zu entscheiden. Was esse ich, wann mache ich Pause, wie lange gehe ich, wo übernachte ich. Es gibt nur eine Garnitur zum Wechseln, also ist die Kleiderfrage keine Frage. Schön muss die Umhüllung nicht sein, nur regendicht und reißfest. Auch das Essen vereinfacht sich von Tag zu Tag. Reis oder Hafer mit Gemüse oder Früchten. Je nachdem, an welchem Feld, welchem Baum oder welchem Dorfladen ich gerade vorbei komme. Und mehr braucht es nicht. Reis auf einem Gaskocher vor einer Scheune mitten in Wiesen bei untergehender Sonne zubereitet und verspeist, schmeckt köstlich. Wieder auf den Geschmack kommen. Auf den Geschmack des Einfachen kommen. Überhaupt wieder schmecken lernen in verloren geglaubter Intensität.

Weil die Aufgabe so leicht ist und jeden Tag dieselbe, kann der Geist sich leeren und sammeln und sich subtileren Dingen widmen. Rückkehr aus der Zerfaserung. Was es dann zu entscheiden gilt, ist: wie verhalte ich mich gegenüber Schmerz und unbequemen Situationen? Fluche ich auf die Hitze und die Schwere des Gepäcks oder entschließe ich mich, nicht darunter zu leiden? Akzeptiere ich den Schmerz im Knie so hingebungsvoll, dass er sich verwandeln und auflösen kann oder wehre ich mich dagegen und verstärke ihn dadurch? Betrachte ich den Regen, der mich durchnässt, als Strafe oder Geschenk des Himmels oder nehme ich ihn einfach, als das, was er ist. Feuchte Substanz.
In der Lage sein, sich den Situationen hinzugeben, ohne sie zu bewerten, erleichtert das Gehen - wie überhaupt das Leben - erheblich. Schritt für Schritt. Das Ziel kennen und es doch vergessen. Zu groß ist die Zahl der Kilometer, die noch vor mir liegen (zumindest anfangs). Sie könnte mich erdrücken. Also denke ich in Etappen, in Schritten. Das bringt mich zurück zum Jetzt, zu mir, nachhause.

Am Anfang wuchert es im Kopf. Das Treibgut der Gedanken wird an die Oberfläche geschwemmt. Was sonst durch Ablenkungen verdeckt wird, ist jetzt zur Betrachtung freigegeben. Nicht mehr zu leugnen der Wirrwarr ungezähmter Gedanken. Ich kann sie mir anschauen und sehen, was ich davon gebrauchen kann und was nicht. Das meiste verabschiede ich und so wird Platz geschaffen für aus der Tiefe aufsteigende Inhalte des Unterbewussten oder für Momente der Leere, wo mein Bewusstsein frei ist, ungefiltert aufzunehmen, was um mich her geschieht. Frei für die kleinen blauen Schmetterlinge in dem saftigen Rot des Mohns, für den Samt des vom Wind gestreiften jungen Getreides, für die Zartheit der kleinen grünen Maispflanzen und ihr spürbares Wachsen, für das Gleiten der Adler.
Das Gleiten sein, das Rot sein, das Wachsen sein, der Wind sein. Das Glück von Momenten: keine Trennung mehr zwischen mir und der Welt.

Auszug aus dem Jakobsweg-Tagebuch von Susanne Brian